
Wir haben verlernt uns zu langweilen. Social Media, Netflix, Terminplanung sei Dank. Oder doch nicht? Warum Langeweile wichtig ist und wir alle langweiliger sein sollten.
Manchmal kann ich mich fast gar nicht mehr daran erinnern, wie ein Leben vor dem Smartphone war. Du weißt etwas nicht? Schnell mal bei Google eingeben. Du findest den Weg nicht? Google Maps weiß ihn sowieso. Mit Karten aus Papier in den Urlaub fahren? Gibt es nicht mehr. Auf die U-Bahn warten und nur die Mäuse entlang der Gleise beobachten, den Menschen auf dem Bahnsteig zu hören oder gar Löcher in die Luft starren? Schon lange nicht mehr passiert. Das Smartphone ist unser ständiger Begleiter geworden und hat dabei auch einiges abgelöst: Terminkalender, MP3-Player, Navigationssystem, sogar teilweise den Geldbeutel. Es hat aber noch ein bisschen mehr abgelöst. Etwas, das man als Kind kaum aushalten konnte, das einen aber doch immer wieder erfinderisch gemacht hat: Langeweile. Dieses verhasste Wort. Es klingt schon langweilig. Einfallslos. Nach Nichtstun. Dabei rühmt sich doch heute jeder mit einem vollen Terminkalender. Einfach mal keine Pläne? Existiert so gut wie nicht.

Früh morgens geht’s ins Büro, im Anschluss zum Sport und dann trifft man noch Freunde. Auch die Wochenenden sind oft schon mindestens ein halbes Jahr im Voraus verplant. Tage, Wochen, an denen wir nicht wissen, was als nächstes passiert? Irgendwo in den 1990er Jahren hängen geblieben. Und genau jetzt sind wir mit der Langeweile allein zuhause. Das Social Distancing von Corona zwingt uns, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Und schon häufen sich die Newsletter und Artikel im Internet zum Thema „13 Tipps gegen Langeweile“, „So verhinderst du Langeweile in der Quarantäne“ etc. Aber warum lassen wir die Langeweile nicht zu? Warum fühlen sich so viele Leute nur als etwas Besonderes, wenn sie ihr Leben mit tollen Ausflügen auf Instagram ausschmücken können? Wieso haben wir verlernt einfach mit uns zu sein? Ohne Internet. Ohne Handy. Nur du. Vielleicht noch jemand, der mit dir in der häuslichen Isolation steckt.

Ich muss zugeben, wären die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Zeit nicht, ich würde sie mögen. Mir macht es nichts aus zuhause zu sein. Ich feiere es sogar einmal nichts vor zu haben. Mich nicht rechtfertigen zu müssen, wenn ich am Wochenende keine Instagram-tauglichen Abenteuer erlebe. Einfach nur in den Tag hinein lebe. Als Einzelkind habe ich schon früh gelernt mich mit mir selbst zu beschäftigen. Habe gebastelt, neue Einstellungen an meiner Kamera ausprobiert, mir sogar neue Kombinationen für meine Outfits oder mein Make-up überlegt und ausprobiert. Ich mag es noch heute mich allein zu beschäftigen. Und die Langeweile. Denn dann sind die Gedanken frei. Können fließen. Und wir werden wieder kreativ. Hetzen wir nur von einem Termin zum nächsten, jagen von einer Online-Shoppingseite zur nächsten oder von Bar zu Restaurant zu Party, dann haben wir keine Pause. Keinen Raum. Nur wenn wir gelangweilt aus dem Fenster schauen und keine Ahnung haben, was in den nächsten Stunden passieren soll – und das auch zulassen – dann können wir die Gedanken wandern lassen. Forscher haben in etlichen Experimenten herausgefunden, dass das sogar sehr gut für unser Gehirn ist. Nur so kann Kreativität entstehen und außerdem zeigt uns unser Gehirn so, welche Tätigkeiten uns erfüllen und welche nicht.
„Lassen wir die Tagträume wieder zu. Legen eine Schallplatte auf. Zelebrieren die Langsamkeit des Analogen und werden alle öfter zu Langweilern.“
Vielleicht sollten wir diese derzeitige Pause also nutzen. Klar, ohne Internet wäre gerade alles schwieriger, Homeoffice nicht möglich etc. Aber vielleicht können wir der Reizüberflutung Einhalt gebieten, einmal das Handy beiseite legen und nicht sofort im Internet surfen, wenn wir 30 Sekunden nichts zu tun haben. Lassen wir die Tagträume wieder zu. Legen eine Schallplatte auf. Zelebrieren die Langsamkeit des Analogen und werden alle öfter zu Langweilern.