83 Millionen Menschen Leben auf einer Fläche von 357.588 km2. Wo kann es in im hoch industrialisierten Deutschland noch Wildnis geben?
Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in der es von fast allen Orten auf der Welt Bilder zu bestaunen gibt. Im Fernsehen. Im Internet. Man kann sogar auf Google Earth direkt und fast Millimeter genau auf einen beliebigen Fleck auf der Welt hinzoomen. Dabei haben wir laut Eckart Nickel eine Elementartugend verloren: „die Fähigkeit, uns auf etwas einzulassen und ein Gefühl der Überraschung zu erfahren.“ Denn Wildnis gibt es schließlich laut World Wide Web in Ansätzen im Amazonas, Sibirien, Kanada. Deutschland taucht aber nicht als erstes auf, wenn wir „Wildnis“ in die Suchmaske unseres Laptops eintippen.
Fragmente eines wilden Deutschland finden wir vorwiegend in den Nationalen Naturlandschaften. Auf einem Drittel der Landesfläche setzt sich der Verband für Naturschutz, Klimaschutz und Nachhaltigkeit ein. Dazu zählen 16 Nationalparke, drei Wildnisgebiete, 104 Naturparke und 18 Biosphärenreservate. Jedes Schutzgebiet zeigt in unterschiedlicher Weise ihr wildes Gesicht. Und unter diesen Naturlandschaften gibt es sie noch, die wilden Orte. Die Landschaften, wo der Mensch seine Finger davon lässt.
Vielfältige Kulturlandschaft vs. 0,6 Prozent echte Wildnis
Wieder. Über Jahrhunderte haben wir in Deutschland die Natur bewirtschaftet, abgeholzt, asphaltiert. Übrig geblieben sind dabei gerade einmal 0,6 Prozent echte Wildnis. Eine vielfältige Kulturlandschaft ist vielerorts an ihre Stelle getreten. Doch hat sich Deutschland das Ziel gesetzt wieder Natur Natur sein zu lassen. Bis zu 2 Prozent der Landesfläche sollen es einmal werden. Aber wo sind die bisherigen 0,6 Prozent? Wie sehen sie aus? Ist Wildnis immer da, wo keine Menschen sind. Wo möglichst viele Freiflächen sind? Wie die dunkelgrünen Kleckse auf der Karte nebenan? Oder kann es Wildnis auch mitten in Berlin geben?
Fündig werden wir in Wäldern der öffentlichen Hand, Moorgebieten, Flussauen, Küstenabschnitten und Hochgebirgsregionen. Aber auch militärische Liegenschaften und Bergbaufolgelandschaften können wieder zu echter Wildnis werden. Und selbst sogenannte Lost Places lassen wieder Artenvielfalt und geschützte Lebensräume für bedrohte Flora und Fauna zu. Wildnis aus zweiter Hand sozusagen. Der Mensch muss es nur wollen. Einfach mal nichts tun. Nichts planen, strukturieren. Und vor allem nicht eingreifen. Machen lassen. Vertrauen. Und: Wir müssen uns nur darauf einlassen können und offen für Überraschungen sein. Dann findest du sie auch. Echte Wildnis in Deutschland.
Wanderungen durch noch wilde, fast unberührte Orte in Deutschland findest du in Wilder Places – 30 Streifzüge durch ein wildes Deutschland, Kompass Verlag, 2023, wofür ich die Texte schreiben durfte.
Wild Recreation 