
Kasachstan ist ein Land der Kontraste. Karge Wüstenlandschaften grenzen an tiefblaue Seen. Schroffe Hochgebirge an Millionenstädte. Fragmente einer Reise.
Wir beginnen zu rollen. Ich höre wie sich die Reifen auf dem Asphalt langsam beginnen zu bewegen. Ein winzig kleiner Ruck geht durch die Maschine. Wir sind in der richtigen Position. Ich sehe wie die Turbinen anfangen sich zu drehen und wie die Startbahn an uns vorbei zieht. Immer schneller. Immer schneller. Das Flugzeug startet. Der Druck presst mich in meinen Sitz zurück und ich sehe noch einmal über das Land. Blicke in die Ferne, bis wir in den Wolken verschwinden. Als das Anschnallzeichen erlischt ziehe ich meine Schuhe aus. Erde fällt von den Sohlen und kleine Sandkörner bahnen sich ihren Weg auf den Teppich unter meinem Vordersitz. Und da sehe ich es wieder vor mir, spüre die drückende Hitze. Ich schließe die Augen.
Weiter, immer weiter. Schritt für Schritt. Der Sand rinnt, bahnt sich seinen Weg entlang meiner Schuhe, bevor er versickert. Meine Füße sinken bei jedem Schritt immer weiter in den Sand und je mehr wir uns bewegen, desto deutlicher wird das Geräusch. Ein tiefes Summen, ein Säuseln im Wind, fast wie ein leises Singen. Der Wind nimmt es auf und trägt es davon, bis in die entfernten Skytengräber. Bald ist es geschafft, nur noch ein paar Meter und wir sind oben. Es wird ganz still. Keiner bewegt sich mehr und das Summen hat aufgehört. Wir sehen uns um, aber es ist nur das Flimmern der glühenden Hitze zu erkennen. Die karge Landschaft verschwimmt vor unseren Augen, als das Singen der Düne immer lauter wird. Wir sind oben angekommen, auf der Singenden Düne im Altyn Emel Nationalpark in Kasachstan. Der feine, gelbe Wüstensand der Düne schimmert in der Mittagssonne. Die Wolken ziehen über den Himmel und die flirrende Sonne lässt die Felswüste des Altyn Emel unwirklich erscheinen. Wir machen uns bereit. Verstauen alle losen Gegenstände, versuchen die Kameras so sorgsam und sicher wie möglich zu verpacken und gehen in die Startaufstellung. Ein Bein nach vorne, wir schauen uns an. 3…2…1…Los. Wir rennen, versuchen dem Gegner zu entkommen. Ich höre noch das Anfeuern der anderen. Der Sand ist weich und gibt nach. Ich kann mich mit jedem Schritt weiter absetzen, sehe schon das Ende der Düne. Nur noch ein paar Schritte. Mein Fuß setzt auf, doch sinkt er nicht ein, sondern rutscht ab. Ich versuche mich noch zu halten, aber meine Hände berühren schon den Boden und ich falle immer weiter bis mein Gesicht im Sand liegt. Ich stehe auf und klopfe mir den Staub ab. Tolles Dünen-Wettrennen. Meine Studienkollegen kommen nach und wir steigen in den Bus, voller Sand und abgehetzt von +44°C im Schatten. Wir blicken noch ein letztes Mal auf die Singende Düne. Ihr Summen hat aufgehört. Der Bus setzt sich in Bewegung und wir sind auf dem Weg zum Mittagessen.
Ein kurzer Ruck geht durch das Flugzeug. Ich schrecke auf. Meine Studienkollegen unterhalten sich auf den anderen Sitzen, schauen Filme oder schlafen. Am Ende des Gangs sehe ich, dass die Stewardess angefangen hat, Getränke auszuteilen. Ich bestelle Wasser und Tee. Als ich nach dem Wasser greife, rutscht der Stewardess mein Becher aus der Hand und landet auf meiner Hose. Das Wasser verteilt sich auf dem Jeansstoff und wird aufgesogen. Die kleinen Wassertropfen bilden eine dunkle Schicht, die sich an mein Bein klebt
Der Himmel verdunkelt sich. Die umliegenden Gipfel des Tien Shan verschwinden unter Schatten und der letzte Schnee ergraut unter der verschwindenden Sonne. Lange Nebelarme bahnen sich ihren Weg über die Hänge. Der Wind frischt auf. Der erste Donner. Der Wind wird zum tosenden Sturm und die Wolken ziehen sich immer dichter zusammen. Die schwarz-graue Masse umhüllt den Gipfel und das Gemisch aus Eis und Fels des Gletschers wird verschluckt. Regen setzt ein. Ich beobachte die ersten Tropfen, wie sie auf meiner Jacke abperlen und an mir herunter laufen. Am Anfang kann ich sie noch zählen, jeden Einzelnen. Doch mit der Zeit werden es immer mehr, so dass sie mir die Sicht nehmen. Die Landschaft verschwimmt hinter einem Mantel aus Regen, wie mit Wasserfarben gemalt. Die umliegenden Berggipfel sind verschwunden. Der graue Himmel scheint immer näher zu kommen und sich über uns ausbreiten zu wollen. Wir laufen. Laufen nach unten, um dem Gewitter zu entkommen. Immer weiter, bis wir auf den nassen Felsen ausrutschen. Wir rappeln uns auf und versuchen uns in unserer nassen Kleidung zu bewegen. Der Donner wird immer lauter und der Abstand zu den Blitzen immer kürzer. Es ist direkt über uns. Noch ein paar Höhenmeter, noch ein kleines Stück Weg. Wir können sie schon sehen. Sogar im Regen. Der Rauch hat sie enttarnt. Die letzten Meter und meine Hand berührt die schwere Holztür. Ich stoße sie auf und werde in Wärme gehüllt. In die trockene, wohlige Wärme einer kasachischen Jurte. Mein letzter Tag auf meiner Reise nach Kasachstan führt mich in das Skigebiet Shymbulak, wo es eigentlich mein Ziel war mir den Gletscher anzusehen. Leider hat uns dann schon nach den ersten Metern ein Gewitter eingeholt und so sitzen wir nun hier: in einer traditionellen kasachischen Jurte und versuchen unsere Kleider zu trocknen und uns mit gegorener Kamel- und Ziegenmilch wieder aufzuwärmen. Allerdings haben diese kasachischen Leibgerichte bei uns Europäern nicht die gewünschte Wirkung. Denn gegorene Kamelmilch ist leider nicht Jedermanns Sache. Zum Glück hat man hier aber immer noch die Möglichkeit sich die Wärme mit einem Gläschen Cognac oder Wodka zurück in den Körper zu holen. Und wenn ich nun hier so sitze und spüre, wie der Cognac meine Kehle hinunter rinnt und mich von innen wärmt, wie die nasse Hose an meinen Beinen klebt und wie sich meine klammen Finger um das Glas klammern…
„Excuse me! Excuse me!“, die Stewardess hält mir Servietten hin. Ich nehme sie und tupfe die nassen Stellen auf meiner Hose ab. Meine Sitznachbarin bestellt unterdessen in einem Mix aus Russisch und Englisch ihre Getränke. Ihren Tee peppt sie mit Etwas aus ihrem kleinen Flachmann auf, bevor sie sich wieder an ihrem Kosmetiktäschchen zu schaffen macht. Nacheinander reiht sie Nagellacke, Lippenstift, Pinzette, Lockenwickler und andere diverse Schminkdöschen auf ihrem Tisch auf. Sorgfältig stellt sie den Spiegel vor sich auf und beginnt sich mitten in der Economy Class die Augenbrauen zu zupfen, die Nägel zu lackieren und die Lockenwickler in die Haare zu drehen. Nachdem ich sie ein paar Minuten beobachtet habe, dreht sie sich zu mir und fragt mich etwas auf Kasachisch. Ihre mandelförmigen Augen sehen mich dabei durchdringend an, bevor sie mir noch einmal die gleiche Frage stellt und mir mit Gesten zu verstehen gibt, dass sie nur kurz auf die Toilette möchte. Als ich mich wieder hinsetze, sehe ich aus dem Fenster, sehe es ganz deutlich vor mir…
Menschen hasten aneinander vorbei. Unser Professor führt uns mitten hinein und bedeutet uns zusammen zu bleiben. Marktfrauen schreien aufeinander ein und versuchen mit den Kunden um die letzten kasachischen Tenge zu feilschen. Filzpantoffeln mit traditionellen Stickerein wechseln die Besitzer. Neben Spirituosen- und Tabakständen liegen Silberschmuck und T-Shirts mit der kasachischen Flagge darauf. Sämtliche Schminkutensilien in jeder erdenklichen Farbe wetteifern mit Wollpullovern und Küchengeräten. Wir stoßen die Tür aus undurchsichtigem Kunststoff auf. Der Duft von Blumen erfüllt den Raum. Rosen, Veilchen, Lilien, die Gerüche wechseln sich unaufhörlich ab, bevor sie dem süßlichen Duft von Äpfeln Platz machen. Almaty, die Stadt der Äpfel. Überall sind Äpfel aufeinander gereiht und gestapelt. Grüne wechseln sich mit rötlichen ab und glänzen auf allen Ständen fein-säuberlich poliert um die Wette. Wir laufen weiter durch die Gänge bis sich der süßliche Duft verliert. Er wird ersetzt durch etwas Herbes. Fliegen surren und schwirren durch die Luft. Die schwüle Hitze legt auf unsere Haut einen dünnen Film und verleiht den Fleischern an ihren Buden eine Schwerfälligkeit. Die farbigen Blumen und Obststände, sind Metzgerständen gewichen. Hier kaufen die Bürger Almatys das Fleisch für das Nationalgericht Schaschlik und für sämtliche andere Fleischgerichte. Auch die Köchinnen auf unserer Exkursion haben hier eingekauft, bevor sie in der Küche standen und uns singend kasachische Köstlichkeiten zubereiteten und die Tradition dahinter erklärten. Wir streunen durch die Gänge, saugen die Eindrücke in uns auf und machen uns wieder auf den Weg zurück durch die Straßen Almatys. Hier war für die letzten Wochen unser Ausgangspunkt. Ein Mix aus kasachischer und russischer Kultur formt und gestaltet die frühere Hauptstadt. Sowjetische Monumentalbauten existieren scheinbar mühelos neben kasachischen Denkmälern und Plattenbauten. Dennoch ist auch der Einfluss europäischer Städte und westlicher Kulturen nicht zu verkennen, wenn sich Harry Potter-Plakate mit kasachischen Imbissbuden und traditionellen Märkten abwechseln.
Den letzten Abend verbringen wir auf dem Kok Tobe. Wir nehmen die Seilbahn auf den Gipfel und genießen den Blick über die Stadt. Das bronzene Apfeldenkmal beschwört die Geschichte der Stadt der Äpfel herauf. Straßenkaraoke bringt uns noch einmal die moderne kasachische Kultur nahe bevor wir den höchsten Punkt der Stadt wieder verlassen. Wir fahren hinunter, blicken noch ein letztes Mal in den Sonnenuntergang und verlieren uns in den Straßen…
Pling! Das Anschnallzeichen leuchtet wieder auf. Ich schnalle mich an und alles geht ganz schnell. Das Flugzeug landet. Wir steigen aus, gehen die langen Flure in Amsterdam Schiphol entlang. Eigentlich ging es recht schnell. Sieben Stunden Almaty – Amsterdam, noch zwei Stunden bis München. Ein letztes Mal Gepäck verstauen, anschnallen und aussteigen.
Ich stehe am Gepäckband in München. Ich sehe den langen Streifen aus schwarzem Gummi zu, wie sie ihre Runden drehen. Immer weiter, immer weiter. Die ersten Taschen fallen auf das Band. Eine nach der anderen. Wie das Gepäckband ziehen auch meine Erinnerungen noch einmal an mir vorbei. Die ersten Tage in den himmlischen Bergen des Tien Shan, die Wildheit und Erhabenheit seiner 7000er. Die schneebedeckten Gipfel, die durch tiefe bewaldete Täler mit Bergseen und Gletschern durchzogen werden, wechseln sich mit kargen Wüstenlandschaften ab. Steppen schließen sich an Felswüsten und sind durchzogen von Canyons und Dünenlandschaften. Städte wie Almaty bilden den wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Landes und stehen in eindeutigem Kontrast zur wilden, weitläufigen Natur Kasachstans. Die Hektik der Stadt und die Moderne wird aufgehoben durch die Abgeschiedenheit und Stille der ländlichen Regionen. Ein Gegensatz jagt den anderen: Hochgebirge, karge Wüsten, Jurten, Monumentalbauten, Flüsse, Steppen, Gletscher, Dünen, Menschenmassen, Einöde, Moderne, Tradition. Ich kann die Gegensätze immer noch nicht greifen. Auch jetzt überwältigen sie mich noch. Die Fremdheit, die Andersartigkeit, sie zieht mich in ihren Bann. Kasachstan zieht mich immer noch in seinen Bann. Man kann die Größe und die unterschiedlichen Landschaften kaum begreifen. Wir sind von Station zu Station mit dem Bus getingelt und waren auf Gletscherforschungsstationen, in Jurten, Gebirgs- und Wüstennationalparks, Städten, Seen, Skigebieten und Museen. Wir haben Dinge gegessen, gesehen, gehört, gerochen und getrunken, von denen wir zuvor noch nie etwas gehört hatten. Wir haben nur so einen kleinen Teil Kasachstans bereist und können diese Eindrücke kaum verarbeiten und begreifen.
Ich sehe sie schon von weitem. Meine Tasche ist auf das Band gefallen. Sie dreht ihre Runde und kommt zu mir. Der kleine blaue Anhänger mit dem gelben Adler darauf funkelt im Neonlicht der Wartehalle. Ich greife die Träger und hebe sie vom Band, halte den Anhänger in meinen Händen. Ich bin zuhause, bin angekommen. Ich winke den anderen noch einmal zu und gehe Richtung Ausgang. Immer noch den Anhänger mit der kasachischen Nationalflagge in der Hand. Es lässt mich nicht mehr los.